Rechtsprechungsreport

Krankheitsbedingte Kündigung als Beendigung i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG

Der Fall

Die Beklagte ist ein mit der Durchführung von Sicherheitskontrollen an einem Flughafen beauftragtes Unternehmen. Sie beschäftigt über 1.000 Arbeitnehmer. Mit Schreiben vom 25.11.2020 kündigte sie den bei ihr als Luftsicherheitsassistenten tätigen Kläger nach Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements und Anhörung des Betriebsrats aufgrund hoher krankheitsbedingter Fehlzeiten.

Im Zeitraum vom 25.11.2020 bis 22.12.2020 sprach die Beklagte mehrere Kündigungen aus krankheitsbedingten Gründen aus. Versehentlich kam es, entgegen der Anweisung des Geschäftsführers der Beklagten, zu einem verfrühten Ausspruch von Kündigungen im Monat Dezember 2020, so dass innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen mehr als 29 Kündigungen, nämlich 34, ausgesprochen wurden. Ein Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG fand nicht statt. Die Beklagte erstattete keine Massenentlassungsanzeige.

Zur Verteidigung ihrer Kündigung vom 25.11.2020 berief die Beklagte sich im Prozess auf die Massenentlassungs-Richtlinie (Massenentlassungs-RL). Nach dem Wortlaut der Massenentlassungs-RL seien Massenentlassungen solche Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer lägen, vornehme. Folglich sei § 17 KSchG, der die Massenentlassungs-RL in das deutsche Recht umsetze, auf personenbedingte Kündigungen nicht anwendbar. Die Beklagte habe daher weder ein Konsultationsverfahren mit ihrem Betriebsrat durchführen noch eine Massenentlassungsanzeige erstatten müssen.

Die Voraussetzungen für eine krankheitsbedingte Kündigung, so die Beklagte, seien gegeben. Der Kläger sei in den Jahren 2017 bis 2020 durchschnittlich an 64,75 Tagen arbeitsunfähig erkrankt gewesen, so dass Krankheitszeiten weit über den sechs Wochen des Entgeltfortzahlungszeitraums angefallen seien. Durch die krankheitsbedingten Fehlzeiten seien der Beklagten zwischen 2017 und 2020 17.803,32 EUR Lohnfortzahlungskosten für 184 Arbeitstage, also deutlich mehr als sechs Wochen pro Jahr Lohnfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz, entstanden.

Mit seiner am 9.12.2020 beim ArbG Düsseldorf eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen die ihm ausgesprochene Kündigung vom 25.11.2020 gewendet. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben (ArbG Düsseldorf, Urt. v. 1.4.2021 – 10 Ca 7888/21). Die hiergegen beim LAG Düsseldorf eingelegte Berufung blieb erfolglos.

Die Entscheidung

Das LAG Düsseldorf bestätigt mit seinem Urteil die erstinstanzliche Entscheidung. Ebenso wie schon das Arbeitsgericht Düsseldorf erachtet auch das Berufungsgericht die Kündigung wegen nicht erstatteter Massenentlassungsanzeige gem. § 17 Abs. 3 KSchG i.V.m. § 134 BGB und nicht durchgeführtem Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG i.V.m. § 134 BGB für unwirksam.

Unstreitig sei der Schwellenwert des § 17 Abs. 1 KSchG im Hinblick auf die streitgegenständliche Kündigung überschritten worden. Der Überschreitung des Schwellenwertes stehe nicht entgegen, dass es sich bei den Kündigungen um personen- bzw. krankheitsbedingte Kündigungen handelte. Der Wortlaut des § 17 KSchG spreche lediglich von Entlassungen und grenze diese nicht ihrer Ursache nach ein. Personen- und verhaltensbedingte Entlassungen seien daher vom Wortlaut der Norm ebenso erfasst, wie betriebsbedingte Entlassungen. Der Wortlaut der Massenentlassungs-RL stehe der umfassenden Auslegung des Begriffs Entlassung in § 17 KSchG nicht entgegen. Zwar sei es richtig, dass die Massenentlassungs-RL selbst nur für Entlassungen gelte, die nicht in der Person des Arbeitnehmers begründet seien (Art. 1 Abs. 1a) Massenentlassungs-RL). Der nationale Gesetzgeber sei aber nicht gehindert, über diese europäischen Vorgaben hinauszugehen.

Daneben sei die Kündigung vom 25.11.2020 auch und selbstständig tragend nach § 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 KSchG unwirksam, da sie nicht durch Gründe, die in der Person des Klägers begründet sind, sozial gerechtfertigt werden könne. Es fehle an betrieblichen Beeinträchtigungen durch die krankheitsbedingten Ausfälle des Klägers. Wirtschaftliche Belastungen der Beklagten seien nicht festzustellen.

Der Praxistipp

Die grundsätzliche Bedeutung der mit dem Urteil des LAG Düsseldorf positiv entschiedenen Frage der Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1 bis 3 KSchG bei krankheitsbedingten Kündigungen hat das Berufungsgericht durchaus gesehen. Da die Unwirksamkeit der Kündigung jedoch bereits selbstständig auf § 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 KSchG gestützt werden konnte, war die Revision nicht zuzulassen.

Eine andere Antwort als das LAG Düsseldorf, so ist zu vermuten, hätte jedoch auch das Bundesarbeitsgericht nicht gefunden. Das LAG Düsseldorf weist zutreffend auf den Sinn und Zweck des § 17 KSchG hin, der in der Vermeidung von Belastungen des Arbeitsmarktes besteht. Aus welchen Gründen es zu den Entlassungen komme, sei daher nicht relevant. Auch nach Ansicht des EuGH kommt es für die Berechnung der Zahl der beabsichtigten Entlassungen nicht auf den Grund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses an. Vielmehr ist jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen (EuGH, Urt. v. 12.10.2004 – C-55/02, NZA 2004, 1265). In der Praxis ist daher stets zu prüfen, wie viele Arbeitsverhältnisse innerhalb des 30-Tagezeitraums auf Veranlassung des Arbeitgebers insgesamt beendet werden sollen. Neben betriebsbedingten Kündigungen sind somit auch alle personen- und verhaltensbedingten Kündigungen und alle arbeitgeberseitig veranlassten Aufhebungsverträge, Vergleiche oder Eigenkündigungen zu berücksichtigen.

(LAG Düsseldorf, Urt. v. 15.10.2021 – 7 Sa 405/21)

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