© michels.pmks rechtsanwälte, 2021
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Der Fall
Der 1975 geborene, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger war seit 1992 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Der Kläger ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens schloss der Insolvenzverwalter und spätere Beklagte mit dem Betriebsrat am 27.3.2020 einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste und kündigte 61 der zu diesem Zeitpunkt beschäftigten 396 Arbeitnehmer. Von den 12 Mitarbeitern der Vergleichsgruppe „Armaturenfertigung“, der auch der Kläger angehörte, betraf dies zwei Arbeitnehmer.
Nach erneuten Verhandlungen vereinbarte der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat am 29.6.2020 wegen der nun beabsichtigten Betriebsstilllegung nach Ausproduktion zum 31.5.2021 einen zweiten Interessenausgleich, der die Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse vorsah. Dabei verständigten sich die Betriebspartner darauf, dass die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer, die für die Ausproduktion nicht benötigt würden, unter Berücksichtigung von § 113 InsO zum nächstzulässigen Termin zu kündigen seien. Die für die Ausproduktion erforderlichen Arbeitnehmer sollten nach Abschluss des Interessenausgleichs ebenfalls eine Kündigung erhalten, die allerdings nicht zum frühestmöglichen Termin, sondern erst zum geplanten Ende der Ausproduktion am 31.5.2021 wirksam werden sollte. Weiter kamen die Betriebspartner in dem Interessenausgleich überein, dass aufgrund der Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse eine Sozialauswahl entbehrlich sei.
Bestandteil des Interessenausgleichs waren drei Namenslisten. Die erste Liste enthielt die Namen derjenigen 107 Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse zum nächstzulässigen Termin beendet werden sollten. In der zweiten Liste waren 190 für die Ausproduktion benötigte Arbeitnehmer namentlich genannt, die eine Kündigung zum 31.5.2021 erhalten sollten. In der dritten Namensliste fanden sich schließlich 40 Arbeitnehmer, denen schon auf der Grundlage des ersten Interessenausgleichs vom 27.3.2020 gekündigt worden war und die entweder Kündigungsschutzklage erhoben hatten oder noch erheben konnten. Diesen sollte vorsorglich zum nächstzulässigen Termin erneut gekündigt werden. Von den noch zehn Arbeitnehmern der Armaturenfertigung waren fünf, u.a. Herr A, auf der zweiten Namensliste – Kündigung zum Ende der Ausproduktion am 31.5.2021 – genannt. Der Kläger war, ebenso wie Herr M und die übrigen Mitarbeiter der Armaturenfertigung, auf der Liste derjenigen Arbeitnehmer namentlich genannt, die zum nächstzulässigen Termin zu kündigen waren.
Der Kollege A des Klägers ist 1990 geboren, verheiratet, einem Kind zum Unterhalt verpflichtet und seit 2012 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Herr M ist 1968 geboren, unverheiratet, einem Kind zum Unterhalt verpflichtet und seit 1985 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt.
Nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige erklärte der Insolvenzverwalter die Kündigung aller Arbeitsverhältnisse. Nach ordnungsgemäßer Durchführung des Zustimmungsverfahrens gemäß §§ 168 ff. SGB IX erfolgte die Kündigung des Klägers zum 30.11.2022. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. Anders als die Vorinstanzen (ArbG Dortmund, Urt. v. 10.3.2021 – 10 Ca 3370/21; LAG Hamm, Urt. v. 8.10.2021 – 16 Sa 374/21), die der Kündigungsschutzklage stattgegeben hatten, befand das BAG die Kündigung für wirksam.
Die Entscheidung
Die Betriebspartner waren verpflichtet, die Entscheidung, welche Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des § 113 InsO zum nächstmöglichen Termin und welche unter Verlängerung der in dieser Norm enthaltenden Frist erst zum 31.5.2021 gekündigt werden, nach sozialen Auswahlkriterien zu treffen. Ungeachtet des Umstands, dass der Interessenausgleich die Stilllegung des gesamten Betriebs und damit die Kündigung aller Arbeitsverhältnisse zum Gegenstand hatte, machte die von den Betriebspartnern gewählte zeitliche Staffelung der Beendigungstermine nach dem im Rahmen der Ausproduktion verbleibenden Beschäftigungsbedarf eine Sozialauswahl erforderlich.
Vorliegend hat sich der Fehler im Auswahlverfahren – die Nichtvornahme einer sozialen Auswahl – aber nicht auf das Auswahlergebnis ausgewirkt, sodass das Unterlassen der sozialen Auswahl nicht kausal für die Kündigung des Klägers war. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist eine Sozialauswahl nämlich nur dann unwirksam, wenn sich auch ihr Ergebnis als fehlerhaft erweist. Ist eine Sozialauswahl gar nicht oder methodisch fehlerhaft durchgeführt worden, ist die Kündigung jedenfalls nicht aus diesem Grunde unwirksam, wenn die tatsächlich getroffene Auswahl des Gekündigten, sei es auch zufällig, objektiv vertretbar ist (BAG, Urt. v. 27.7.2017 – 2 AZR 476/16). Der Insolvenzverwalter habe hier aufgezeigt, dass mit der Entscheidung, das Arbeitsverhältnis des Klägers in der „ersten Welle“ zum 30.11.2020 zu kündigen, eine objektiv vertretbare Auswahl getroffen worden ist und sich deshalb die Auswahlentscheidung bezogen auf den Kläger als nicht grob fehlerhaft erweist. Seine Auswahl stellt mithin noch ein zulässiges Abwägungsergebnis dar.
Der Insolvenzverwalter hat sich darauf berufen, dass selbst unter Zugrundelegung der Annahme des Klägers, dass der bis zum 31.5.2021 weiterbeschäftigte Herr A sozial weniger schutzbedürftig sei, nicht der Kläger, sondern Herr M eine Kündigung erst zum Ende des Ausproduktion erhalten hätte. Angesichts der geringen Unterschiede in der sozialen Schutzbedürftigkeit wäre die Weiterbeschäftigung des Herrn M bis zum 31.5.2021 anstelle des Klägers eine objektiv vertretbare Auswahlentscheidung, die unter Berücksichtigung des Wertungsspielraums des Insolvenzverwalters die sozialen Auswahlkriterien gemäß § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO ausreichend berücksichtigt hätte und nicht grob fehlerhaft gewesen wäre. Insbesondere sei die Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung im Anwendungsbereich des § 125 InsO kein beachtliches Kriterium.
Dem Insolvenzverwalter war es auch nicht aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, eine hypothetische soziale Auswahl in den Rechtsstreit einzuführen. Auf die Frage, ob dem Betriebsrat die Sozialdaten sämtlicher Arbeitnehmer mitgeteilt worden sind, kommt es dabei nicht an. Der Arbeitgeber, der bei einer durchgeführten Sozialauswahl bestimmte Arbeitnehmer übersehen oder nicht für vergleichbar gehalten und deshalb dem Betriebsrat die für die soziale Auswahl (objektiv) erheblichen Umstände nicht mitgeteilt hat, ist grundsätzlich berechtigt, seinen Vortrag auf entsprechende Rüge im Prozess zu ergänzen. Darin liegt kein nach § 102 BetrVG unzulässiges Nachschieben von Kündigungsgründen (vgl. BAG, Urt. v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07). Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitgeber aus nachvollziehbaren Gründen bei Erklärung der Kündigung davon ausgegangen ist, eine Sozialauswahl sei insgesamt entbehrlich (BAG, Urt. v. 9.9.2010 – 2 AZR 936/08).
Der Praxistipp
Die vorliegende Entscheidung ist, anders als die führende Entscheidung des 6. Senats vom 8.12.2022 – 6 AZR 31/22 – zu einer teilweisen Parallelsache, bisher noch nicht besprochen worden. Zu Recht hat der 6. Senat die Praxis, dass der Arbeitgeber im Prozess die für die hypothetische Sozialauswahl (objektiv) erheblichen Umstände ergänzend vortragen kann, bestätigt. Ungeachtet dessen ist jeder Arbeitgeber gut beraten, bei einer etappenweise Betriebsstilllegung eine Sozialauswahl durchzuführen. Dies gilt insbesondere dann, wenn – anders als im vorliegenden Fall – die Regelungen des § 125 InsO nicht anwendbar sind. Bei einer Stilllegung in Wellen muss der Arbeitgeber bei jeder Etappe mit Ausnahme der letzten eine soziale Auswahl vornehmen. Außer bei der letzten Etappe geht es nämlich jeweils um die Frage, welche von mehreren Arbeitnehmern, und sei es auch nur befristet bis zur nächsten Etappe bzw. bis zur endgültigen Schließung, weiterzubeschäftigen sind. Im vorliegenden Fall hatte der Arbeitgeber im Ergebnis schlicht „Glück gehabt“, dass die unterlassene soziale Auswahl nicht kausal für die Kündigung des Klägers war und er die für die hypothetische soziale Auswahl (objektiv) erheblichen Umstände noch nachträglich vortragen konnte.
Anders gewendet: Auch wenn § 125 InsO keine Anwendung findet, ist der Fall aus Arbeitgebersicht noch nicht verloren, wenn eine Sozialauswahl vollständig unterblieben ist. Auch scheitert die Kündigung dann nicht zwingend an den Anforderungen des § 102 BetrVG. Da der Arbeitgeber bei der Betriebsratsanhörung regelmäßig noch nicht wissen kann, welche Unwirksamkeitsgründe der Arbeitnehmer gegenüber der Kündigung in einem etwaigen Kündigungsschutzprozess geltend machen will, wäre der Arbeitgeber weitgehend rechtlos gestellt, würde man ihm insoweit ergänzenden Sachvortrag abschneiden. Auf entsprechende Rüge ist der Vortrag im Prozess zu ergänzen und zudem für eine hypothetische Sozialauswahl maßgeblichen sozialen Daten der mit dem Kläger vergleichbaren Arbeitnehmern und deren Gewichtung vorzutragen.
(BAG, Urt. v. 8.12.2022 – 6 AZR 32/22)